Einführung

von Lucia Angela Cavegn

2011 stellte die Fotostiftung Winterthur zum Auftakt ihres vierzigjährigen Jubiläums eine neue Art von Fotografie vor: Das Fotografieren mit Webcams. Die Ausstellung hiess „GLOBAL AFFAIRS – Erkundungen im Netz“; der Künstler war Kurt Caviezel. Lange Zeit hatte man nicht viel von und über ihn gehört, dabei hatte er im Jahr 2002 den Bündner Manor-­Preis gewonnen und seine künstlerische Karriere hatte damit einen viel versprechenden Anfang genommen. Ich selber lernte ihn kurz darauf über einen gemeinsamen Bekannten kennen und schlug ihn ein Jahr später für die Ausstellung „3 Generationen“ in den Kunsträumen oxyd Winterthur vor.

Danach verloren wir uns aus den Augen. Über die Jahre hinweg kam dann und wann eine E-Mail – eine Adressänderung – die Ankündigung einer neuer Website – aber nie die Ankündigung einer grossen Ausstellung. In der Zwischenzeit, d. h. im Verlauf der letzten 10 Jahren, sass Kurt Caviezel fleissig vor dem Computer und lud über drei Millionen Webcam-­‐Bilder vom Internet herunter. 2011 kam dann endlich die Einladung zur Ausstellung in der Fotostiftung Winterthur. „Aber ist dies überhaupt Fotografie?“, fragen Sie sich vielleicht. Eine berechtigte Frage.

Tatsächlich platziert Kurt Caviezel die Kamera nicht selber. Diese wird meistens von den vor der Kamera erscheinenden Personen platziert und in Betrieb genommen. Die fest installierten Webcams zeigen in der Regel immer denselben Ausschnitt. Jedes Bild wird fortlaufend von einem neuen überschrieben. Die Webcam besitzt keinen eigenen Speicher. Zur Fotografie werden diese Bilder in dem Moment, wenn sie mit einem Mausklick herunter geladen und auf die Festplatte des Computers geladen werden. Das Objektiv (die öffentlich zugängliche Webcam) und der Sucher (der Computerbildschirm) müssen sich – anders als bei herkömmlichen Fotoapparaten – nicht am selben Ort befinden, sondern können meilenweit voneinander getrennt sein. Die Fotografie wird bekanntlich gerne mit der Jagd verglichen. Der Fotograf ist ein Bilder-Jäger, der den Sucher als Visier benutzt, und den Auslöser als Abzug betätigt. Die Trophäen des Fotografen sind Bilder, welche den Moment, d.h. die sichtbare Erscheinung, festhalten und konservieren.

Die Fotografie ist im Grunde ein bewahrender Akt, der die Gegenwart im Moment des Bild-Auslösens in die Vergangenheit überführt. Das Jagdgebiet von Kurt Caviezel ist – wie bereits erwähnt – das Internet. Mittels öffentlich zugänglicher Webcams erkundet er die Welt, indem er per Mausklick von einem Ort zum anderen switcht, auf der Suche nach eigenartigen, skurrilen Bildern, die nur so lang auf dem Bildschirm erscheinen, wie sie nicht von der nächsten Momentaufnahme der autorenlosen Kamera überschrieben werden. Kurt Caviezel ist kein herkömmlicher Fotograf, der seine Kamera – wie ein Jäger – zielgerichtet auf das Objekt ansetzen kann. Das Visier seiner Kamera ist fix montiert, so dass er geduldig warten muss, bis das Zielobjekt im Bild ist. Mit dem Auslöser schnappt die Falle zu, und das Bild ist im Kasten bzw. auf der Festplatte. Kurt Caviezel hat seine Bildersammlung in Kategorien abgelegt. Neben klassischen Bildgattungen wie Porträt, Landschaft, Tiere, Badeszenen gibt es die besondere Gattung Bildstörungen, von denen hier allerdings keine ausgestellt ist.

Kurt Caviezel spricht von drei Aggregatszuständen der Fotografie: Dem gasförmigen Zustand entsprechen die Bilder im Internet, dem flüssigen der Film mit laufenden Bildern und dem festen Zustand die Prints. Er selber verwandelt flüchtige Bilder in feste und flüssige Form: Die herunter geladenen Standbild-­‐Aufnahmen der Webcams werden entweder als Inkjet-­‐Prints ausgedruckt, oder zu Videosequenzen montiert, wo die neu arrangierten und überblendeten Bilder einer Webcam (z.T. in grösseren Zeiträumen recherchiert) Zeit und Aussage kondensieren.

Das Spannende an der Webcam-Fotografie ist, dass der Fotografierte gar nicht weiss, dass er fotografiert wird. Personen, welche in ihren Privaträumen öffentlich zugängliche Webcams einrichten, gestatten zwar Einblicke in ihr Privatleben, rechnen jedoch nicht damit, dass diese Bilder irgendwo am anderen Ende der Welt gespeichert werden. Ausgehend von der vermeintlichen Flüchtigkeit der Aufnahme gebärden sich die Subjekte vor der Kamera ungezwungen, ja sie spielen sogar mit der Kamera, wie die Serie „Mask“ zeigt.

Die Kamera in Verbund mit dem Bildschirm funktioniert wie ein Spiegel, vor dem man Faxen macht. Auch bietet die Webcam-Software für heimische Rechner die Möglichkeit, grafische Objekte (eigentlich sind es Verfremdungs-Spielzeuge) wie Sonnenbrillen, Hüte, Bilderrahmen oder ganze Szenerien ins übertragene Bild hineinzurechnen. So entstehen ganz neuartige, hybride Bildtypen. Die Porträtgalerie hingegen führt eine neue Form des Porträts ein: Vor dem Computer sitzende, angestrengt auf den Bildschirm blickende, vom Bildschirmlicht gebleichte Gesichter, z. T. mit reflektierenden Brillengläsern.

Was aber treibt die Leute an, sich im Alltag, beim Betrinken oder Schminken, der Öffentlichkeit zu zeigen? Eine Webcam kann zu verschiedenen Zwecken eingesetzt werden: Zur Überwachung, Dokumentation, Beziehungspflege über Kontinente hinweg. Doch wo liegt die Motivation, eine Webcam im Alltag laufen zu lassen oder sich bewusst davor zu inszenieren? Handelt es sich hier um eine neue Form von Exhibitionismus? Und wer sind die Adressaten solcher Bilderproduktionen? Eines steht fest: Die Kamera wird vom Besitzer als Mitteilungsform benutzt; sie verbindet ihn mit der Welt und holt ihn aus der Isolierung.

Zugleich dient die Webcam der Vergegenwärtigung; die übertragenen Bilder sind schierer Existenzbeweis jener Personen, die auf dem Bild erscheinen. Die laufende Webcam verschafft den aufgenommenen Personen potentiell weltumspannende Präsenz. Hingegen besitzt die im Computergehäuse eingebaute Kamera kaum eigene physische Präsenz. Für den Besitzer ist sie ein unauffälliges Objekt, an das er sich wie an ein allgegenwärtiges Haustier gewöhnt. Das Einschalten der Webcam scheint für gewisse Leute ein alltägliches Ritual zu sein. Die Webcam-Bilder zeigen dann auch Belangloses. Mitunter wirkt die Banalität erschreckend und schamlos. Das Video mit dem Titel „Couple“ würde sich bestens eignen, um den Begriff „Couch Potatoes“ zu illustrieren. Ausserdem liefert das Video authentisches Anschauungsmaterial für eine anthropologische Studie zum Verhalten von Paaren.

Indem Kurt Caviezel den Prozess des fortwährenden, automatischen Löschens unterbricht, schafft er Bilder, die mit anderen Kameras nicht denkbar wären. Er bleibt als Beobachter und Fotograf unbemerkt; die Webcam funktioniert wie ein umgekehrter Türspion. Sie wird zudem als einfach handzuhabendes Bildtransportmittel genutzt: Die Serie „Holding pictures“ zeigt, wie eine ältere männliche Hand historische Fotografien aus dem Analogzeitalter vor die Webcam hält, um sie vermutlich jüngeren Verwandten zu zeigen. In dieser Serie registrieren wir zwei verschiedene Bildsorten: Bilder, die der Erinnerungskultur dienen, und Bilder, die eine flüchtige visuelle Mitteilungsform darstellen, vergleichbar mit dem Telefon, das ebenfalls ohne (dauerhafte) Aufzeichnung Distanzen überwindet.

Kurt Caviezel zeigt uns unzensierte Bilder, die einen tiefen Einblick in das menschliche Wesen geben. In fester Form haben diese Webcam-­‐Bilder manchmal gespenstischen, manchmal belustigenden Charakter und nicht zuletzt bedienen sie die voyeuristische Lust.

Lucia Angela Cavegn,
Winterthur 2012